Rumäniendeutsche
verlassen in Scharen das Balkanland, auch in der Sowjetunion drohen Deutsche Massenexodus
an. Aus Polen hört man von Versuchen, "arische" Vorfahren nachzuweisen. Eine
deutsche Minderheit wurde dort lange nicht anerkannt. Viele kamen bislang in den Westen,
ihrer Ahnen Heimat. Bald wird es das vereinigte Deutschland sein. Es soll etwa 20
Millionen Auslandsdeutsche geben. Wie viele von ihnen wollen hierher?
...
Ungarndeutsche Tanzgruppe aus Pécs (Fünfkirchen)
Wer zur Rückkehr ins
Land der Ahnen keine Alternative mehr sieht, wird sicher auch künftig willkommen
geheißen. Ziel sollte es aber eher sein, Minderheitenrechte vor Ort wahren zu helfen und
somit einen Beitrag zu leisten zu selbstbestimmter Integration. Natürlich bei
Aufrechterhaltung nationaler Eigenarten, sofern dies der Wunsch der Betroffenen ist. Auch
dürfen damit keine territorialen Forderungen verbunden sein, wie sie das faschistische
Deutschland vor einem halben Jahrhundert erhob. Wie andere Völker sind auch die Deutschen
vom Schicksal der Landsleute angesprochen, deren Ahnen meist schon vor vielen Generationen
in die Fremde gezogen sind. Es ist legitim und nicht nur hierzulande Usus, die
Öffentlichkeit für Probleme zu interessieren, die eine Minderheit vom eigenen Ethnos
betreffen.
Versuch einer Definition
Wer sind also die Auslandsdeutschen? In der DDR war von ihnen lange Zeit kaum Genaueres
bekannt. Es konnte sich gar die Meinung halten, die in Übersee müßten Nazis gewesen
sein, weil man von deren Untertauchen in fernen Ländern wußte. Das Thema Auswanderung
war wie so vieles suspekt. Einfacher ist zunächst zu erklären, wer nicht
darunter fällt, nämlich die uns ethnisch so nahen Österreicher, Deutschschweizer,
Luxemburger und Liechtensteiner; sie leben in Staaten, in denen man sich wie in der
DDR und BRD überwiegend oder ausschließlich der deutschen Sprache bedient. Das
sind zusammen knapp 13 Millionen. Auch sind die Hunderttausende darunter nicht zu
verstehen, die zwar ihren ständigen Wohnsitz woanders nahmen, dort aber weiterhin
deutsche Staatsbürger sind. Nach dem Ausschlußverfahren bleiben Personen übrig, die in
sprachlicher Minderheit Deutsch reden und als Staatsbürger des jeweiligen Landes in mehr
als 60 Staaten über die ganze Erde verstreut leben. Sie lassen sich aber vielfach nur
schwer von den "Deutschstämmigen" unterscheiden. Dieser Begriff meint wiederum
Menschen deutscher Abstammung, die die Sprache ihrer Vorfahren in der Regel nicht mehr
beherrschen. Das sind rund 50 Millionen in aller Welt.
Es bedarf einer weiteren Einschränkung: Nicht alle, die nach dieser Bestimmung
Auslandsdeutsche sind, fühlen sich tatsächlich als solche. Die Elsässer und
Ostlothringer z.B. verstehen sich als Franzosen mit spezieller (nämlich auf einem
deutschen Dialekt beruhender) regionaler Eigenart. Schon deshalb ist festzuhalten: Wenn
hier von "Deutschtum", "Deutschstämmigkeit",
"Auslandsdeutschen" die Rede ist, meint das keine politische Einheit, sondern
besitzt ausschließlich ethnisch-kulturellen Bezug.
Was sagt die Geschichte?
Warum leben Menschen deutscher Zunge in fremden Ländern, weshalb gingen ihre Vorfahren
dorthin? Drei Weltgegenden sind auseinanderzuhalten; trotzdem kann dies hier nur ein
Ausschnitt sein:
Zunächst gibt es die "Grenzland-Volksgruppen" in Westeuropa, Nordschleswiger in
Dänemark, Bewohner der Gegenden um Eupen und St. Vith in Belgien, die schon erwähnten
Elsässer und Ostlothringer in Frankreich sowie die Südtiroler in Italien. Überall
dorthin ist man nicht ausgewandert, sondern es sind Regionen, die schon in den Anfängen
deutsches Sprachgebiet waren und wo es oft auch andersstämmige Bevölkerung gibt. Die
politischen Grenzen änderten sich häufig, sprachliche blieben weitgehend unberührt.
Anders ist die Lage in Osteuropa. Hierher folgten deutsche Siedler vor allem dem Ruf von
Monarchen, entvölkerte Landstriche urbar zu machen bzw. nach Kriegswirren, Epidemien zu
"repeupliren". Das bot eine Chance, bedrückenden Verhältnissen, so der
Leibeigenschaft, zu entfliehen. Auch Intoleranz gegenüber Glaubensgemeinschaften war
häufig ein Grund. Dafür Beispiel ist die Odyssee deutschsprachiger Mennoniten, die u.a.
Kindstaufe und Wehrdienst ablehnen. Nachdem sich viele von ihnen im 19. Jh. in Rußland,
besonders in der Ukraine, niedergelassen hatten, zog ein Großteil später weiter nach
Kanada und fand schließlich in Paraguay eine Heimstatt. Es gab, beginnend mit dem 10.
Jh., nicht nur eine Ausdehnung geschlossenen deutschen Siedlungsgebietes über die
damaligen Grenzen an Elbe, Saale und Böhmerwald hinaus Richtung Osten. Daneben entstanden
frühzeitig Sprachinseln in anderen Ländern, so um 1150, als der ungarische König Géza
II. Neusiedler rief, in der Zips (heute Slowakei) und in Siebenbürgen (heute Rumänien).
Auswanderungswellen in das Karpatenvorland hielten bis ins 19. Jh. an. Nach dem Sieg gegen
die Türken vor Wien (1683) dehnte sich das Habsburger Reich nach Südosten aus. Immer
mehr Gegenden wurden nun von Deutschen besiedelt. Das betraf zunächst Ungam westlich der
Donau, dahin kamen die "Donauschwaben".
Der eigentliche "große Schwabenzug" von Ulm ausgehend stromabwärts - begann
1763, als nach anfänglichen Fehlschlägen das Banat neues Auswanderungsziel geworden war.
Deutschprachige Mennonitenfrauen in der ehemaligen Sowjetunion:
tiefe Religiosität als Merkmal nationalen Zusammenhalts
Auf das gleiche Jahr
geht das Manifest der russischen Zarin Katharina II., einer geborenen Prinzessin von
Anhalt-Zerbst, zurück, nach dem etwa 40 000 deutsche Bauern an der Wolga angesiedelt
wurden. Alexander I. ließ ab 1804 ebenfalls Deutsche ins Land. Sie sollten ehemals
türkische Steppengebiete in Bessarabien, der Südukraine und am Schwarzen Meer fruchtbar
machen. Nach 1861, als die Leibeigenschaft im Zarenreich aufgehoben wurde, kam erneut eine
Siedlerwelle aus Deutschland, vor allem nach Kongreß-Polen (wo es schon seit dem
Mittelalter verstreut deutsche Dörfer gab) und in die Sumpfgebiete Wolhyniens, die es
urbar zu machen galt.
Ein Viertel der
Neuamerikaner
Gerade aus Wolhynien zogen Deutsche nach Amerika weiter, womit wir in der dritten
Weltgegend, in Übersee, sind. Organisierte Auswanderung in diese Richtung begann nach dem
Dreißigjährigen Krieg, und das einzige Ziel war zunächst Neuengland, das britische
Kolonialreich in Nordamerika. 1683 landeten die ersten 13 deutschen Familien in
Philadelphia und gründeten Germantown. Es folgten bald Tausende Anhänger verschiedener
Glaubensgemeinschaften, die sich vor allem in Pennsylvania, der Kolonie der
Religionsfreiheit, niederließen. Dort spricht man bis heute einen dem Deutschen
entlehnten Dialekt, das Pennsylvania Dutch.
Beginnend mit dem 18. Jh. war es vor allem wirtschaftliche Not, die Jahr für Jahr mal
mehr, mal weniger Deutsche ins "Land der unbegrenzten Möglichkeiten" lockte.
Machten 1709 etwa 13 000 Pfälzer den Anfang, waren es 1854, dem Rekordauswanderungsjahr,
215 000 Menschen aus allen Teilen des Deutschen Bundes. 1924, das Jahr nach der großen
Inflation, brachte mit 75 000 deutschen Ankömmlingen erneut einen Höhepunkt.
Unsere einstigen Landsleute hatten übrigens hervorragenden Anteil am amerikanischen
Unabhängigkeitskampf. Um ein Haar wäre Deutsch später USA-Amtssprache geworden.
Immerhin betrug der deutsche Einwandereranteil ein Viertel bis ein Drittel. Bis zu einem
Viertel der US-Amerikaner beruft sich auch heute auf Deutschstämmigkeit.
Deutschamerikaner in Neu York begehen
jährlich ihre traditionelle Parade
Daß die USA im 19. Jh.
Hauptauswanderungsland für Deutsche (und andere Völker) wurden, hatte auch mit den
politischen Verhältnissen zu tun. Als sich nach den Befreiungskriegen 1813/15 die
"Heilige Allianz" etablierte, kamen vor allem Studenten und andere
Intellektuelle ins bürgerlich-demokratische Land. Neuer Höhepunkt war die politische
Verfolgung nach der 1848er Revolution. Nun strömten besonders Liberale von Deutschland in
die USA. Ahnliche Wirkungen auf Betroffene verursachten das Sozialistengesetz (1878 bis
1890) sowie der in den dreißiger Jahren unseres Jahrhunderts erstarkende, dann immer mehr
Bevölkerungsgruppen terrorisierende Nationalsozialismus.
Nach Kanada kamen erste deutsche Siedler 1805 aus Pennsylvania, ab 1830 auch direkt aus
dem Heimatland. Ihnen boten vor allem die unerschlossenen Prärieprovinzen im Westen Raum.
historische Aufnahme von 1916:
Deutschkanadier feiern in der Siedlung Winkler in Manitoba
Etwa zur gleichen Zeit,
nämlich ab 1824, erhielten Deutsche Gelegenheit, im Süden Brasiliens vermeintlich
jungfräuliches Urwaldterrain zu roden. Zusammenstöße mit Indianern blieben nicht aus.
Deutsche dehnten ihre Ansiedlungen auch auf benachbarte Gegenden in Argentinien und
Paraguay aus.
Schülerinnen und Schüler der deutschen Schule
in Independencia (Paraguay) mit Lehrmaterialien vom VDA
Gerade dorthin hat sich
vor 45 Jahren auch eine Reihe Nazis absetzen können, ohne daß sie selbst in diesen
Ländern zum Gros der Auslandsdeutschen geworden sind. Erwähnt sei noch die kleine, seit
1852 existierende deutsche Kolonie in Chile, die aber vergleichsweise großen Einfluß,
z.B. im Heer und im Schulwesen, erlangt hat.
Ab 1884 erwarb das Deutsche Reich Kolonialbesitz in Afrika und der Südsee. Dennoch gibt
es heute in betroffenen Ländern kaum noch Nachfahren der Herren von einst. Nur in Namibia
(dem früheren Deutsch-Südwestafrika) hat sich eine nennenswerte Minderheit halten
können. Deutsch ist dort sogar Amtssprache Nummer 3. Das hat sicher auch mit der
ehemaligen Mandatsmacht, dem benachbarten Südafrika, zu tun. Deutsche Auswanderung ins
Land am Kap setzte nämlich schon Ende des 18./Anfang des 19. Jahrhunderts ein.
Denkmal für Adolf Lüderitz in der nach ihm benannten Stadt.
Der Bremer Kaufmann legte den Grundstein deutscher Kolonisation in Südwestafrika
(Namibia)
Nach Australien
schließlich gelangten Landsleute zuerst 1838, ein großer Schub aber auch nach dem
zweiten Weltkrieg. Doch wie in anderen klassischen Einwanderungsländern, insbesondere den
USA und Kanada, schritt der Integrations- und Assimilierungsprozeß schnell voran.
Unerwähnt blieb jetzt Israel, obwohl deutsche Juden zahlreich in diese Gegend kamen. Doch
wer dem Holocaust entrann und womöglich Angehörige in nazideutschen KZ verloren hatte,
verspürte wenig Neigung, sich noch als Deutscher zu fühlen. Nach 1948 haben sich zudem
die Juden in Israel, welcher Herkunft auch immer, als Nation konstituiert.
Buße für
Untaten alter Heimat
Mit den Auslandsdeutschen wurde in unserem Jahrhundert nicht selten Mißbrauch getrieben.
Mal waren sie gewaltsamen Assimilierungsversuchen ausgesetzt, dann wieder büßten sie
für Untaten der alten Heimat. Erste Umsiedlungsaktionen im großen Stil trafen nicht etwa
die Wolgadeutschen nach Stalins berüchtigtem Befehl. Hitlerdeutschland hatte schon vorher
ganze Volksgruppen (insbesondere aus dem Baltikum, der Dobrudscha, Bukowina, Wolhynien und
Bessarabien, z.T. auch aus Südtirol) "Heim ins Reich" geholt. Sie wurden neu
angesiedelt auf annektiertem polnischem und tschechischem Land.
Auslandsdeutsche waren es auch, derer man zuerst habhaft wurde, um sich für Verbrechen
des Hitlerregimes zu rächen, auch wenn sie mit dem Nazismus nicht im Bunde waren. Die
Sowjetdeutschen verloren schon 1941, kurz nach dem Einfall der faschistischen Wehrmacht in
die UdSSR, ihre Autonomie und wurden nach Sibirien und Mittelasien verbannt. Zehntausende
kamen in der Arbeitsarmee zu Tode. Aufenthaltsbeschränkungen galten bis in die sechziger
Jahre. An der Wolga ist die Stimmung eher dagegen, daß es zur Neuauflage der autonomen
deutschen Republik kommt. Deutsche aus Polen (innerhalb der neuen Grenzen), der
Tschechoslowakei und Ungarn waren laut Potsdamer Abkommen auszusiedeln, nur im letzteren
Falle wurde das zu großen Teilen nicht ausgeführt. Das gleiche Schicksal traf die
Mehrzahl der Deutschen in Jugoslawien und alle früheren Bewohner des nun sowjetischen
Nordostpreußens, obwohl dies von den Alliierten nirgendwo festgelegt war.
Siebenbürger Sachsen und Banater Schwaben schienen sich - nach Enteignung, Arbeitsdienst
in der Sowjetunion und Rumänien sowie späterer Wiederherstellung ihrer Rechte - zu
konsolidieren. Dem verpaßte das Ceausescu-Regime durch Assimilierungsdruck, politische
und wirtschaftliche Knebelung einen entscheidenden Schlag. Der Massenexodus hält mangels
Vertrauen in die neue Führung weiter an. Das Ende jener deutschen Minderheit ist
abzusehen, die am längsten im Ausland bestand.
Die weitere Existenz einer solchen Minorität in Polen wurde offiziellerseits, darunter
auch von der Kirche, seit Jahrzehnten bestritten. "Echte" Deutsche gab es in der
Tat nur noch wenige. Die sich jetzt wieder ungestraft dazu bekennen - vorwiegend
zweisprachige Oberschlesier und Masuren - galten im Nachbarland als
"Autochthone", deren Vorfahren germanisiert worden seien. Nun ist es aber wieder
amtlich, daß nationales Zugehörigkeitsgefühl individuelle Entscheidung bleibt.
Auch in anderen Ländern, in denen Auslandsdeutsche leben, gibt es für sie Probleme. Oft
war es während der Weltkriege oder folgender Zeiten verboten, zumindest nicht angeraten,
in der Öffentlichkeit Deutsch zu reden. Schulen und Zeitungen wurden geschlossen,
Kulturvereine aufgelöst.
Wenn solche Maßnahmen, sei es in Australien, Ungarn oder Brasilien, auch wieder
rückgängig gemacht wurden, der sonst natürliche Assimilierungsprozeß wurde dadurch
forciert. Das Interesse nachwachsender Generationen am Erhalt der Sprache ist auch aus
vielerlei anderen Gründen nur schwer aufrechtzuerhalten.
Hilfe, wenn sie
gewünscht wird
Hilfe beim Bewahren deutscher Eigenart in fernen Ländern kann, wenn gewünscht, aus der
Urheimat kommen. Der Verein für das Deutschtum im Ausland (VDA) verfügt diesbezüglich
über langjähriges Knowhow. 1881 als Allgemeiner Deutscher Schulverein gegründet und
1908 umbenannt, befaßt er sich seit jeher mit Kontaktpflege und Unterstützung auf
schulischem, kulturellem und Pressegebiet. Wegen seiner Tätigkeit in der Zeit des Dritten
Reiches unterlag der VDA nach dem Krieg alliiertem Verbot. 1955 wurde er im damals
SPD-regierten Bayern wiederbegründet.
In der DDR entstand 1964 die Gesellschaft Neue Heimat (GNH). Auch
sie unterstützt seitdem die Auslandsdeutschen und vermittelt Verbindungen speziell zu
Herkunftsgegenden in diesem Teil Deutschlands. Dabei mußte man sich in der Vergangenheit
auf Partner in Übersee beschränken. Deutsche Minderheiten in Osteuropa galten bis
letztes Jahr als "innere Angelegenheit" dieser Staaten. Im Inland führte die
GNH zudem weitgehend ein Schattendasein. Die Beschäftigung breiter Kreise mit
Auswanderungsthemen galt als nicht opportun.
...
Noch einmal: Es geht nicht darum, soviel Menschen wie möglich nach Deutschland zu holen. Auslandsdeutsche
sollen sich - wie andere Volksgruppen oder Minderheiten auch - in ihrer jetzigen Heimat
wohl fühlen können. Die Mehrheit, ohnehin in klassischen Einwanderungsländern, vor
allem in Übersee lebend, hat diesbezüglich auch kaum Probleme. Man ist dort meist nur in
zweiter Linie deutsch. Woanders wird es geduldigen Wirkens bedürfen, was nur mit Hilfe
der zuständigen Regierungen in Betracht kommt. 20 Millionen stehen nicht ante portas,
doch selbst bei "nur" 1 Million aus Osteuropa hätten wir alle zusammen versagt.
Es gilt also, die Brückenfunktion der Auslandsdeutschen zwischen den Völkern zu
stärken, ihnen die Heimat zu erhalten, dort wo sie ist. |